Workarounds – Praktiken des Umwegs

Call for Abstracts / Call for Papers
ilinx, Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft
Heft 4, 2015

HerausgeberInnen: Holger Brohm, Sebastian Gießmann, Gabriele Schabacher, Sandra Schramke

Die vierte Ausgabe von ilinx widmet sich den Praktiken und Kulturtechniken zielführender Umwege. Unter  „Workarounds“ verstehen wir temporäre Lösungen eines Problems und Improvisationen, mit deren Hilfe nicht nur Fehler in technischen Systemen korrigiert werden, sondern im weiteren Sinne der soziale Alltag bewältigt wird – angesprochen sind die Ausnahmen von der Regel, die erst das Gelingen ermöglichen. Workarounds umgehen auf räumlicher, zeitlicher und auch institutioneller Ebene die formalisierten und regelgeleiteten Abläufe, sie zeigen neue politische, soziale und ästhetische Wege auf. Indem auftretenden Schwierigkeiten ausgewichen und überraschende Verbindungen geschaffen werden, eröffnen sich Handlungsoptionen, während man etwas tut.

Die in der Praxis der Umwege entfalteten spezifischen technischen und ästhetischen Verfahren lassen sich verschiedenen Logiken zuordnen. Schnelle Handlungsabläufe setzen ein spezifisches Können voraus; andere Problemlösungen, die auf eine Rentabilität benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen angelegt sind, zeichnen sich durch Reduktion der Mittel aus. Ebenso resultieren Objekte, die nicht rein auf Funktionalität abzielen, aus komplexen Formen gegenseitiger Umwege und Zweckentfremdungen, daneben existieren Verfahren, deren Kennzeichen in der Umstrukturierung epistemischer Ordnungen liegt.

Workarounds haben als Umwege einem offenen zeitlichen Verlauf; ihre Bewegungen sind nicht vorgezeichnet. Sie sind als bricolage (Claude-Lévi Strauss), als taktische Praktik (Michel de Certeau) und als Auseinandersetzung mit den „normal, natural troubles“ (Harold Garfinkel) beschreibbar. Wir gehen davon aus, dass sie vor allem als kooperatives Phänomen auftreten: Mit welcher Kenntnis von Kniffen, Listigkeiten, Tricks, Drehs, Clous, fortwährend ausgehandelten Regeln der Prozedur, „Reparaturen“ innerhalb von Sprechakten und Interaktion, der Flickschusterei und Frickelei, auch der ,,Nebenabrede“ am Gericht wird der Alltag fortwährend bewerkstelligt? Und wie verstetigen sich diese Zwischenlösungen über längere Zeiträume, wie gehen sie in „Grenzobjekte“ der Zusammenarbeit ein (Susan Leigh Star), werden zu auf Dauer gestellten architektonischen und infrastrukturellen Zwischenlösungen?

Vor diesem Hintergrund laden wir zu Beiträgen ein, die historische wie gegenwärtige kulturelle und ästhetische Praktiken des Umwegs als „Workarounds“ untersuchen. Gedacht ist dabei insbesondere, aber nicht ausschließlich an Studien zu folgenden Schwerpunkten:

1)    „Kooperation“ in Sozial-, Kultur- und Medientheorie

Kooperation, verstanden als „wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Abläufe, Ziele oder Mittel“ (Erhard Schüttpelz), entwickelt sich international zu einer Grundlagenfrage der Kulturwissenschaften. Im Mittelpunkt steht dabei die kollektive Formierung von Personen, Zeichen und Dingen in sich wechselseitig überlagernden und bedingenden Praktiken. Wie aber lassen sich die Umwege der Kooperation in actu und in situ beschreiben? Wie werden soziale und kulturelle Tatsachen durch Kooperationsbeziehungen verfertigt? Welche analytischen Konzepte erlauben die Verallgemeinerung kooperativer Interaktion? Was leistet die interdisziplinäre Frage nach dem „Rätsel der menschlichen und nicht-menschlichen Kooperation“ als Vermittlungsinstanz in vergangenen, aktuellen und zukünftigen Wissensformationen?

2)    Spiel und Körpertechniken

Spiele und insbesondere moderne Mannschaftsspiele konstituieren sich als praktischer Vollzug einer komplexen Gesamthandlung unter Beteiligung der unterschiedlichen Ko-Akteure. In der situativen Anpassung antrainierter Bewegungsmuster und Reaktionen im Sinne von Körpertechniken entfaltet sich eine Choreographie des Spiels, die weniger als festgefügte Ordnung denn als strukturierte Improvisation verstanden werden muss, in die Momente des Kontingenten, des Zufalls und der Störung eingeschrieben sind. In welchem Verhältnis stehen die „momentanen Eingebungen“ zu den einstudierten Spielhandlungen, inwieweit verändern sie das Repertoire der Gesten, der Tricks und der Finten und nach welchen Kriterien wird ihr Gelingen bemessen?

3)    Infrastrukturen und Objekte

Infrastrukturen sind ein genuiner Schauplatz für Praktiken des Umwegs. Im Alltagsverständnis gelten Infrastrukturen als technisch fixierte und sozial stabile Formationen, allerdings verdanken sie diesen Zustand einer stetigen Bearbeitung. Nicht nur entstehen sie in mühsamen Prozessen der Aushandlung von Standards und der Einführung von Technologien, Infrastrukturen müssen auch nach ihrer Etablierung beständig gewartet, gepflegt und repariert werden. Sogenannte „Workarounds“ stellen Prozeduren und Artefakte bereit, die infrastrukturelle Netzwerke in doppelter Hinsicht betreffen: Praktiken des Umwegs können einerseits das Funktionieren von Infrastrukturen sicherstellen, andererseits gelingt es ihnen ggf. auch, Funktionsvorgaben effektiv zu umgehen. Wie genau aber gewährleisten Workarounds die Aufrechterhaltung (medialer) Infrastrukturen? Inwiefern stellen Praktiken des Umwegs ein implizites Wissen über infrastrukturelle Zusammenhänge bereit? Welche Objekte und Artefakte können als Workarounds für Infrastrukturen figurieren?

4)    Räume und Architekturen

Architekturen sind in ihrer Genealogie und Bewirtschaftung stabilen Praktiken wie etwa Konstruktionsgesetzen oder Rechtsordnungen unterworfen. Nichtsdestotrotz entstehen neue Räume immer dort, wo mit unterschiedlicher Motivation Umwege gegangen werden, die sich ästhetisch niederschlagen und nicht selten neue Raum- wie auch Zeitordnungen mit sich bringen. Wir fragen danach, welche Charakteristika den Konventionen von Architektur zugrunde liegen und mit welchen Mitteln diese umgangen werden? Angesprochen sind gleichermaßen die Logiken der Konzeption, Produktion und Vermittlung von Architektur wie auch die ihnen zugrunde liegenden symbolischen Ordnungen.

Mit dem geplanten Themenheft schließt ilinx zum einen direkt an die vorherige Ausgabe 3 zu Ökonomischen Praktiken an. Zum anderen setzt das kommende Heft die kulturtheoretische Beschäftigung mit Figuren des Wissens fort, die wie der namensgebende Wirbel durch kurzfristige Verwirrung zu neuen Erkenntnissen führen.

Zeitschrift / Verfahren

Der Name (ilinx, gr. = Wirbel) steht für den Anspruch, verschiedene Strömungen, Theorien und Materialien aufeinander treffen zu lassen. Für ilinx 4 werden Texte gesucht, die von konkreten Praktiken des Umwegs ausgehen. Es gibt zwei Modi für Beiträge:
1) Wissenschaftliche Aufsätze in deutscher oder englischer Sprache im Umfang von 30.000-35.000 Zeichen (ca. 15 Druckseiten). Diese Texte durchlaufen ein anonymisiertes Begutachtungsverfahren und werden ein Jahr nach dem Erscheinen der Druckausgabe digital auf der Internetseite von ilinx zugänglich sein.
2) Kürzere Stichworteinträge, essayistische Betrachtungen, künstlerische Beiträge oder Interviews mit max. 15.000 Zeichen (ca. 7-8 Druckseiten).
ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft erscheint in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Heft 4 entsteht in Zusammenarbeit mit dem Siegener Graduiertenkolleg „Locating Media“ und der AG „Medien der Kooperation“. Redaktion dieser Ausgabe: Sebastian Gießmann (Siegen), Gabriele Schabacher (Weimar), Holger Brohm und Sandra Schramke (Berlin).

Erbeten werden Abstracts von einer Seite bis zum 23. März 2015 an redaktion.ilinx@googlemail.com.
Die Frist für die im Anschluss angeforderten, fertigen Beiträge ist der 30. Juni 2014.
www.ilinx-kultur.org
redaktion.ilinx@googlemail.com

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