TORONTO SCHOOL REVISITED

Es gibt eine Toronto School, die es nie gegeben hat, und es gab eine Art „Schule“ in Toronto, die nicht die Toronto School ist. Der Workshop begibt sich in die Gemengelage an theoretischen Ansätzen, wissenschaftlichen Diskursen, historischen Persönlichkeiten und ihrer Netzwerke im Toronto der 1950er Jahre. Es wird darum gehen, das, was klassische nordamerikanische Medientheorie geworden ist, am Ort seiner Entstehung aufzusuchen und in seiner historisch spezifischen theoretischen Zurichtung zu erfassen.

Der Workshop nutzt neuere Forschungen zur Zusammensetzung und Dynamik im Forschungsseminar „Culture and Communications“, das 1953 bis 1955 unter dem Vorsitz Marshall McLuhans und gefördert durch die Ford Foundation an der University of Toronto stattgefunden hat. In diesem Seminar sind zentrale Thesen der klassischen Medientheorie – etwa vom Bias der Medien oder von der Inkommensurabilität der Kommunikationsleistungen unterschiedlicher Medien – aufgekommen, aufgenommen oder entwickelt worden. Dieses historisch belegte und äußerst ertragreiche Seminar an der University of Toronto wird jedoch nur selten mit dem Label „Toronto School“ versehen. Als solche gilt vielmehr das Dreiergespann Harold A. Innis, Marshall McLuhan und Eric A. Havelock, manchmal noch ergänzt um einen vierten Mitspieler: Walter J. Ong, S. J. Ong war indessen nie Mitglied der University of Toronto, und Innis, McLuhan und Havelock haben trotz ihrer Tätigkeit an derselben Universität in Toronto nie regelmäßig und dieselbe Fragestellung verfolgend in gemeinsamen Forschungsverbünden zusammengearbeitet.

Im Workshop soll die Gabelung der Toronto School in eine historische Forschungsgruppe und eine unhistorische, systematische Gruppierung von Forschungsansätzen ausgenutzt werden, um die Einsätze der klassischen Medientheorie zu erkennen, zu verstehen und zu problematisieren. Vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsergebnisse zur produktiven interdisziplinären Forschungsgruppe „Culture and Communications“ sollen zentrale ebenso wie weniger bekannte Texte der klassischen Medientheorie einer Relektüre unterzogen werden. Das Augenmerk gilt dabei auch der historischen Bearbeitung aktueller Fragestellungen der Medienwissenschaft: Raumtheorie und ökologische Denkansätze, Fragen nach Infrastruktur und Öffentlichkeit werden damals wie heute hinsichtlich einer orts- und situationsbezogenen Medienforschung diskutiert. So ergibt sich aus den angestrebten Untersuchungen zudem die Problematisierung aktueller Ansätze der Medienwissenschaft ausgehend von den historischen Befunden.

Ein Workshop mit: Cora Bender, Bernard Geoghegan, Sebastian Gießmann, Jana Mangold, Gabriele Schabacher, Jens Schröter und Erhard Schüttpelz. 

PROGRAMM

10h–12h30
1) Die historische Schule der Toronto School
Donald F. Theall: „The Toronto School of Communication“, 2003, S. 1–17.
Walter J. Ong: „Latin Language Study as a Renaissance Puberty Rite“, in: Studies in Philology 56/2
(1959), S. 103–124.
2) Medienanalyse vor der klassischen Medientheorie
Marshall McLuhan: The Mechanical Bride, (1951), Corte Madera 2002, S. 48–50 („Market
Research“), 93–97 („Love Goddess Assembly Line“), 118–120 („Coke and Cheesecake“).
3) Kommunikation und Ökologie
Gregory Bateson: „Epidemiology of Schizophrenia“ and „Toward a Theory of Schizophrenia“, in:
Steps towards an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and
Epistemology, San Francisco 1972.
Mittagspause
14h30–17h
4) Kolonial-postkoloniale Konstellationen
Edmund Carpenter: „Witch-fear among the Aivilik Eskimos“, in: American Journal of Psychiatry
110/3 (1953), S. 194–199.
Edmund Carpenter: „Ohnainewk, Eskimo Hunter“, in: Joseph B. Casagrande: In the Company of
Man. 20 Portraits of Anthropologists, New York 1960, S. 417–426.
5) Ökonomiegeschichte
Harold A. Innis: „The Coming of Paper“, in: Harold Innis’s History of Communication. Paper and
Printing – Antiquity to Early Modernity, hg.v. William J. Buxton u.a., Lanham u.a. 2015, S. 15–56.
6) Klassische Medientheorie
Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man (1962), Toronto 1980,
S. 1–9, 48–50, 86–90, 129–133, 255–263.

LITERATUR (ZUM THEMA)

Bender, Cora: „Dorothy Lee: Lineare und nicht-lineare Kodifizierungen der Realität. Auf
Spurensuche nach einer Vordenkerin der Medientheorie“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11
(2014), S. 166–176.
Blondheim, Menachem/Watson, Rita (Hg.): The Toronto School of Communication Theory.
Interpretations, Extensions, Applications, Toronto 2007.
Buxton, William J.: The Rise of McLuhanism, The Loss of Innis-Sense. Rethinking the Origins of
the Toronto School of Communication, in: Canadian Journal of Communication 37 (2012), S. 577–
593.
Darroch, Michael: „The Toronto School: Cross-Border Encounters, Intellectual Entanglements“, in:
Peter Simonson/David Park (Hg.): The International History of Communication Studies, London
2016, S. 276-301.
Darroch, Michael: „Interdisciplinary Vocabularies at the University of Torontos ᾿ Culture and
Communications Seminar, 1953–1955“, Vortrag am MIT, April 2009, http://web.mit.edu/commforum/
mit6/papers/Darroch.pdf (13.04.2014).
Darroch, Michael: „Sigfried Giedion und die ‚Explorations‘. Die anonyme Geschichte der Medien-
Architektur, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2014), S. 143–154.
Friesen, Norm/Cressman, Darryl/Schröter, Jens: „Die Kanadische Schule“, in: Jens Schröter (Hg.):
Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart u.a. 2014, S. 69–78.
Kerckhove, Derrick de: McLuhan and the „Toronto School of Communication“, in: Canadian
Journal of Communication 14/4 (1989), S. 73–79.
Mangold, Jana: „Zwischen Sprache/n. Explorationen der Medien zwischen Kultur und
Kommunikation 1954“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2014), S. 155–165.
Marchessault, Jannine/Darroch, Michael: „Anonymous History as Methodology: The collaborations
of Sigfried Giedion, Jaqueline Tyrwhitt and the Explorations-Group 1953–55“, in: Broeckmann,
Andreas u.a. (Hg.): Place studies in art, media, science and technology. Historical investigations on
the sites and the migration of knowledge, Weimar 2008, S. 9–27.
Peters, John Durham: Institutional Opportunities for Intellectual History in Communication Studies,
in: David W. Park/Jefferson Pooley (Hg.): The History of Media and Communication Reserach.
Contested Memories, New York u.a. 2008, S. 143–162.
Prins, Harald E.L./Bishop, John: „Edmuns Carpenter. Explorations in Media and Anthropology“, in:
Visual Anthropology Review 17/2 (2001–2002), S. 110–140.
Schüttpelz, Erhard: „Die ältesten in den neuesten Medien. Folklore und Massenkommunikation um
1950“, in: Navigationen 6/1 (2006), S. 33–46.
Schüttpelz, Erhard: „60 Jahre Medientheorie: Die Black Box der ‚Explorations‘ wird geöffnet“, in:
Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2014), S. 139–142.